Freitag, 11. Juni 2010
Robert Aickman: Glockengeläut / Schlaflos
Die Anfang der Neunziger im Kölner DuMont-Verlag erschienene "Bibliothek des Phantastischen" brachte es leider nur auf 12 Bände, die aber bedenkenlos alle gekauft werden können. Darunter finden sich auch zwei Sammlungen mit Erzählungen eines meiner Lieblingsautoren, auf die ich hier noch einmal gesondert hinweisen möchte. Robert Aickman (1914-1981) führt die Tradition der britischen Gespenstergeschichte fort, wenn auch auf sehr eigene Art und Weise. Anteile der Überväter Sheridan Le Fanu und M. R. James sind zwar noch zu erkennen, doch der Autor arbeitet noch mehr als beispielsweise Walter de la Mare mit Leerstellen, häufig werden die übernatürlichen Ereignisse nicht konkretisiert, aber sie scheinen dank der erzeugten Atmosphäre im Raum zu schweben - ganz sicher kann man sich selten sein, was den Erzählungen eine eigene Qualität des Unheimlichen verleiht. "Glockengeläut" ist die bekannteste Erzählung des Autors und auch eine seiner besten, während mir im anderen Band besonders "Die Züge" und "Im Sanatorium der Schlaflosen" gefallen haben. Auf Englisch ist im Jahr 2008 glücklicherweise auch eine Taschenbuch-Gesamtausgabe erschienen, wenn man vorher seinen Aickman komplett haben wollte (und da gibt es noch einiges zu entdecken), mußte man ganz schön tief in die Tasche greifen.

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Mittwoch, 19. Mai 2010
Thomas Owen: Wohin am Abend?
Ich war 14 Jahre alt, als ich diese Sammlung das erste mal gelesen habe und damit wohl definitiv zu jung, um alles richtig zu verstehen und in einen angemessenen Kontext zu bringen. Nichtsdestotrotz übten diese Erzählungen eine ungemeine Faszination auf mich aus, gerade durch ihre Rätselhaftigkeit, ihre Offenheit, die nicht wie die zur gleichen Zeit verzehrten Stephen King-Romane ihre Protagonisten in den Kampf gegen die übernatürliche Störung der Weltordnung schickten, sondern hilflose Individuen durch eine Welt taumeln lassen, die überhaupt nicht mehr geordnet ist. Wenn auch beeinflusst vom Übervater der belgischen Phantastik Jean Ray, ersetzen Owens Erzählungen den Pulp-Charme des Vorbilds durch einen Hang ins existenzialistische, kafkaeske und erhalten so einen vollkommen eigenen Charakter, der sie auf verschiedensten Ebenen lesbar macht. Und so lehne ich mich mal gerade aus dem Fenster und schreibe, daß "15.12.38" eine der besten Horrorgeschichten der Weltliteratur ist, auch wenn sie je nach Definition gar nicht als Horrorgeschichte durchgeht. Widerspruch ist willkommen, es brauchen auch nur 1 Cent und Versandkosten investiert werden.

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Freitag, 30. April 2010
Veronika Schmidt (Hg.): Gespenstergeschichten aus Lateinamerika
Abwechslungsreiche Sammlung, wobei die interessantesten Erzählungen nicht unbedingt von der bekannteren Namen Márquez, Borges, Fuentes oder Bioy Casares stammen, sondern von Autoren, von denen ich noch nie gehört hatte, so etwa "Mädchen, Blume, Telefon" von Carlos Drummond de Andrade. Ein paar der Geschichten sind mir auch ein bißchen zu nah an der Fabel und Parabel, aber diese Spielart des Phantastischen ist ja gerade in den hier vertretenen Ländern recht verbreitet. Ein wenig schade, daß die Anthologie sich auf zeitgenössische Autoren beschränkt, ein paar Texte aus dem 19. Jahrhundert hätten die Auswahl wohl noch etwas runder gemacht. Nichtsdestotrotz eine empfehlenswerte Lektüre mit einigen Höhepunkten, wie überhaupt die knapp 20 Bände umfassende Reihe, die Mitte der 70er bis Anfang der 80er im Fischer-Verlag erschien und wahrlich aus allen Ecken der Welt Gespenstergeschichten präsentierte, äußerst lobenswert ist. Als besonderer Tip sei noch auf die von Lafcadio Hearn zusammengetragenen japanischen Geistergeschichten hingewiesen, die von keinem geringerem als Gustav Meyrink übersetzt wurden.

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Samstag, 3. April 2010
Alexander Grin: Wogengleiter
Der langsam von einer schweren Krankheit genesende Thomas Harvej erblickt im Hafen ein junges Mädchen, in das er sich sofort verliebt, zudem hat er merkwürdige Zustände, in denen ihm eine Stimme das Wort "Wogengleiter" einflüstert - als er dann ein Schiff gleichen Namens im Hafen vorfindet, möchte er dort eine Kabine für die nächste Fahrt buchen - auch wenn der Kapitän ein ziemlich unsympathischer Zeitgenosse ist...

Der Roman ist dem "Wunderbarem" recht zugeneigt und weder so gespenstisch wie etwa die unheimlichen Seegeschichten von William Hope Hodgson, noch so deliriös wie andere Erzählungen Grins, etwa der grandiose "Rattenfänger", über dessen Verfilmungen es hier auch bald etwas zu lesen gibt. Nichtsdestotrotz hat die Geschichte Charme und Stil genug, um einen an der Stange zu halten. Sehr hübsch.

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Montag, 22. März 2010
Horacio Quiroga: Weißer Herzstillstand
Interessant, lateinamerikanische Literatur mit Hang zur Phantastik zu lesen aus der Zeit vor Borges und dem magischen Realismus. Der Titel einer anderen bei Suhrkamp erschienenen Sammlung "Geschichten von Liebe, Wahnsinn und Tod" trifft es schon ziemlich genau. Die von Poe, Maupassant und einigen russischen Schriftstellern beeinflußten Geschichten haben nicht immer explizit phantastische Elemente, bewegen sich aber wie ihre Protagonisten alle in einem faszinierenden Schwebezustand zwischen Leben und Tod oder an der Grenze zum Wahnsinn, der oft mit unerfüllter Liebe einhergeht. Vor allem die erste Erzählung "Seine Absenz" folgt einer originellen Idee und ist wie die restlichen in einem angenehmen, klischeefreien Stil geschrieben. Die andere Sammlung steht schon im Schrank und wird sicherlich demnächst auch vertilgt werden.

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Freitag, 5. März 2010
Alexander Moritz Frey: Spuk des Alltags
Die ambitionierte Reihe "Edgar Allan Poes phantastische Bibliothek" liefert hiermit eine lohnenswerte Ausgrabung eines zu Unrecht übersehenen Autoren der Weimarer Zeit. Anders als der vor einigen Jahren noch von Suhrkamp erhältliche, auch heutzutage noch höchst amüsante anarchische Science Fiction-Roman „Solneman, der Unsichtbare“, schlagen diese Erzählungen, wenn auch teilweise noch im Grotesken verankert, einen wesentlich düstereren Ton an. Über allem schwebt der Schatten E.T.A. Hoffmanns, dessen Mischung aus Spott über die bürgerliche Gesellschaft und morbiden Motiven hier eine Fortführung unter moderneren Vorzeichen erfährt. Dies funktioniert in der Mischung sehr gut, aber auch losgelöst voneinander: Die Erzählung „Verwirrung“ berichtet lakonisch-schwarzhumorig vom Ableben eines Zeitungsausträgers, der aufgrund eines Mißverständnisses von einem Mob zu Tode gehetzt wird, während „Verwesung“ der manische Bericht eines Jugendlichen ist, der seine Eltern umbringt und aus Angst vor Entdeckung sich mehrere Wochen mit den Leichen zusammen in der Wohnung verbarrikadiert. Überhaupt wird häufig aus der Perspektive von Kriminellen und Verwirrten erzählt, wobei deutlich wird, daß auch Poe ein entscheidender Einfluß auf Freys Prosa war. Doch trotz dem Hang zum Grotesken und Überzeichneten gelingt es dem Autor gleichfalls über weite Strecken, eine durchaus unheimliche Atmosphäre aufzubauen. Vor allem die Erzählung „Verzweiflung“ ist eine Horrorgeschichte reinsten Wassers, die das Zeug zum Klassiker hat und wohl auch einer geworden wäre, hätte man den Autor nicht so sträflich vernachlässigt. Um so lobenswerter, daß diese Sammlung jetzt wieder erhältlich ist, mit einem informativem Nachwort und den Original-Illustrationen von 1920 versehen.

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Donnerstag, 18. Februar 2010
Thomas Ligotti: Das Alptraum-Netzwerk
In der Phantastikszene ist der Amerikaner Ligotti längst kein Unbekannter mehr, es ist aber nicht damit zu rechnen, daß sein Name irgendwann mal auf den Bestsellerlisten auftaucht, denn dazu ist seine Prosa zu eigenwillig. Es ist überhaupt nicht weit hergeholt, wenn der Autor neben den offensichtlichen Poe und H.P. Lovecraft auch Thomas Bernhard als Vorbild angibt, denn neben den übernatürlichen Elementen finden sich in seinen Erzählungen auch zahlreiche Spuren dieses „inneren“ Grauens, daß sich in der Angst vor der eigenen Leere und Bedeutungslosigkeit, aber auch in der Ablehnung zu Kontakten nach außen, zu anderen Menschen, manifestieren kann. Die zentrale Erzählung dieser Zusammenstellung, „Meine Arbeit ist noch nicht erledigt“, macht diese Melange sichtbar, beginnt sie doch in einem für Ligotti ungewöhnlich sachlichen Stil, der mit seinen Beschreibungen des von Mobbing und Egoismus beherrschten Alltags in den Büroräumen einer großen Firma an Chuck Palahniuks „Fight Club“ und die Verfilmung von David Fincher erinnert. Doch nach eine Weile merkt der Leser, daß auch dieses Büro trotz seiner scheinbaren Normalität auch nur ein Platz in dem bekannten düsteren Ligotti-Universum ist, der sehr perfide getarnt wurde. Auch die weiteren Erzählungen dieses Bandes erschaffen gekonnt eine bedrohliche Atmosphäre des Unwirklichen, hinter der die Realität zwar immer wieder zum Vorschein kommt, aber mit anderen Augen betrachtet werden muß. Dieses Spiel mit der subjektiven Wahrnehmung ist wie die stilistische Finesse eine von vielen Façetten, die das Werk Ligottis so faszinierend macht. Anders als bei vielen anderen zeitgenössischen Horror-Autoren schwingt die Stimmung dieser Prosa noch lange nach, nachdem man die letzte Seite gelesen und das Buch geschlossen hat.

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Donnerstag, 11. Februar 2010
Jacques Hamelink: Horror Vacui
Da habe ich wohl, mehr oder weniger blind in die Grabbelkiste greifend, ein echtes Goldstück gefunden. Hamelinks Erzählungen beginnen zumeist wie realistische Alltagsbeschreibungen, kippen dann aber langsam um in ein nicht-greifbares Grauen teils individueller, teils existenzialistischer, teils sogar apokalyptischer Natur und münden in rätselhafte, ambivalente Auflösungen. Am besten gefiel mir "Ein aufgehaltenes Unwetter", in dem der Ausflug einiger Schulkinder ins Moor ein Ende findet, das ich überhaupt nicht erwartet hatte und mich in seiner misanthropischen Düsterniß an die viele Jahre später entstandenen Texte von Thomas Ligotti erinnerte. Aber auch die anderen Erzählungen bieten originelle Variationen bekannter phantastischer Motive, die - teilweise auf den Kopf gestellt - ihren Reiz daraus gewinnen, sich gerade in banalen Alltäglichkeiten zu manifestieren...oder zu manifestieren scheinen...große Klasse!

Die "edition suhrkamp"-Ausgabe von 1967 ist wohl die einzige deutsche Übersetzung des Autors und bei amazon marketplace und Konsorten problemlos und günstig abzugreifen.

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Samstag, 23. Januar 2010
Edith Wharton: Gespenstergeschichten
Obwohl Amerikanerin, legt Wharton hier zahlreiche Beispiele äußerst eleganter Geistergeschichten der britischen Tradition vor. Dabei kommt häufig Ambivalenz zum Einsatz - es wird nicht eindeutig geklärt, ob der Spuk "tatsächlich" stattgefunden hat - oder die übliche Climax einer Erscheinung findet wie auch beim Kollegen Walter de la Mare überhaupt nicht statt, der Leser fühlt sich aber trotzdem in einer unbehaglichen Atmosphäre gefangen. Obwohl alle der hier gesammelten Erzählungen sehr zu empfehlen sind, sei noch mal besonders auf "Danach" (Afterward) hingewiesen, die der klassischen Struktur der Geistererzählung einen cleveren weiteren Twist hinzufügt. Die Protagonistin erfährt erst viele Jahre später, daß sie einst ein Gespenst gesehen hat, mit nicht unerheblichen Folgen. Wurde im Übrigen in der britischen TV-Serie Shades of Darkness neben weiteren Wharton-Erzählungen und anderen Vorlagen aus dem frühen 20. Jahrhundert auch sehr hübsch verfilmt.

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Montag, 11. Januar 2010
Eugen Egner: Nach Hause
Der Autor hatte es ja schon mit "Gift Gottes" geschafft, zu meinem liebsten deutschen Gegenwartsautor zu werden, aber es gelingt ihm tatsächlich, noch immer besser zu werden! Der Humor der früheren Texte ist hier schon ziemlich heruntergeschraubt, es gibt zwar nach wie vor zahlreiche groteske, absurde Ideen, diese reizen hier aber nicht zum Lachen, sondern ziehen die Protagonisten grimmig-düster in den Untergang. Die Vergleiche mit Thomas Ligotti und Robert Aickman auf dem Klappentext sind gar nicht mal weit hergeholt - abgesehen davon, daß es sympathisch ist, einen zu Unrecht kaum bekannten Autoren mit anderen zu Unrecht kaum bekannten Autoren zu vergleichen, finden sich hier durchaus Parallelen: Die unerklärlichen, bizarren Ereignisse, die wie bei Aickman ohne Aufklärung bleiben und häufig in einem ambivalenten Schluß enden, sowie die toten, alten Stadtviertel und Straßenecken, die an Ligottis Schauplätze erinnern. Nichtsdestotrotz hat Egner aber einen sehr eigenen Stil und sollte keinesfalls in irgendeine Epigonen-Schublade gesteckt werden. In seinen Texten steckt auch etwas inhärent deutsches, das ich jetzt nicht genauer definieren kann, die Welt in seinen Erzählungen aber deutlich näher verortet als bei den genannten Kollegen. Alle der hier versammelten Geschichten sind großartig und bieten neben einem angenehmen Stil einen immensen Ideenreichtum, der zwar manchmal auf Motive der klassischen unheimlichen Literatur zurückgreift (belebte Puppen, böse Orte, widerspenstige Körperteile), diese aber meist in vollkommen abseitigen Perspektiven oder Zusammenhängen verwendet. Wenn ich hier noch zwei besondere Highlights herauspicken sollte, wäre das wohl die Titelerzählung (ich würde einiges dafür geben, wenn mir auch mal so ein umwerfender Schlußsatz einfallen würde) und "Kindheitsphotos", die ich, wenn ich das Geld, die Zeit und das Talent hätte, am liebsten direkt morgen verfilmen möchte.

Bei Zweitausendeins wird die schöne Erstausgabe incl. handsignierter Grafik gerade für 5,90 verschleudert. Da sollte man zugreifen, denn irgendwann ist sie weg und dann ist das Gejammer groß.

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